
perspektivwechsel
african awakening
Wir würde der afrikanische Kontinent heutzutage aussehen, wenn es nie Kolonialherrschaft gegeben hätte?
Diese Frage habe ich mir in meiner Zeit in Ghana laufend gestellt. Wenn ich durch Accra laufe, frage ich mich, wie das Stadtbild aussehen würde. Aber das Gedankenexperiment kann noch viel weiter zurückreichen: Welches Land würde eigentlich auf dem heutigen Ghana existieren, hätte die willkürliche Grenzziehung durch die Europäer bei der Kongokonferenz (Berliner Konferenz, 1884/85) nie stattgefunden? Welches Land mitsamt welcher Kultur und welchen Systemen würde ich hier kennenlernen, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre?
Morris habe ich als Fotografen bei Arise kennengelernt — er ist allerdings viel mehr als das: Ein junger Künstler, der ein großes Interesse für die Geschichte, die eigene Kultur und die Gesellschaft hat. An irgendeinem Tag vor ein paar Monaten sind wir plötzlich von einem einfachen Gespräch in eine gefühlt allumfassende Diskussion über Kolonialismus und dessen Spuren, das heutige Ghana und alternative Versionen des afrikanischen Kontinents gerutscht. Aus diesem Grund wollte ich mich noch einmal ausführlich mit ihm unterhalten und seine Stimme und seine Perspektive auf dieses Thema gerne teilen.
Außerdem arbeitet er gerade an einem Kunstprojekt (Colony of Congo), eine Kollektion, die Aufmerksamkeit auf das noch immer vorherrschende System lenken soll: Wie wenig von vorkolonialistischen Kulturgütern, Wissen und Methodiken überhaupt noch vorhanden ist. Wie viel „afrikanischer Identität“ und Kultur durch den westlichen Einfluss verloren gegangen ist. Wie sehr manche afrikanischen Staaten sich indirekt noch in kolonialistischen Fesseln befinden…
*Der folgende Text ist wortgetreu ins Deutsche übersetzt. Aufgrund der Übersetzung können manche Aussagen nicht so exakt wiedergegeben werden, wie sie vielleicht gemeint sind. Deshalb bietet es sich natürlich an den Text im Original zu lesen (englischer Blogeintrag). In der deutschen Übersetzung taucht das Wort „Afrikaner“ sehr oft auf, da Morris oft von „we, Africans“ gesprochen hat. Ich habe kein besseres Wort im Deutschen gefunden, um Menschen zu benennen, die auf dem afrikanischen Kontinent leben und darauf basierend ähnliche Erfahrungen machen. Mir ist es allerdings wichtig zu erwähnen, dass dies eine wörtliche Übersetzung ist und nicht ein Wort, das ich selbst ausgewählt hätte, da das Wort „Afrikaner“ in der deutschen Sprache eben oft in einem verallgemeinernden Kontext genutzt wird, der Stereotype des Kontinentes nur verstärkt und Afrika sehr einseitig darstellt, was ich eigentlich vermeiden möchte.
„Colony of Congo. Es begann als ein Experiment. Die Kolonisierung ist definitiv eines der größten Dinge, die uns widerfahren sind. Der Kongo steht wirklich als Symbolbild für Afrika. Wenn man sich den Kongo ansieht und all die Dinge, die der Kongo in der Vergangenheit durchgemacht hat, dann bekommt man eine Vorstellung von der Unterdrückung Afrikas.
Es geht nicht wirklich um den Kongo. Es ist nicht nur der Kongo, der leidet. Aber ich dachte mir, der Kongo wäre ein gutes Bild, um den Leuten zu sagen, was das Problem ist. Es ist einfach gut, dieses Bild vom Kongo als Bild für Afrika zu haben: So wurden die Menschen in der Vergangenheit behandelt. Sie wurden in ihrem eigenen Land versklavt. Und dann gefangen genommen. Jetzt werden sie nicht mehr mit Ketten versklavt, sondern mit dem Verstand. Mir geht es darum, der modernen Welt alte Ideen mit neuen Methoden zu vermitteln. Es ist wie ein Kontrast zwischen dem alten Leben und dem Jetzt.”
Inwiefern sind die Einflüsse der Kolonialisierung noch präsent? Was bleibt von der Unterdrückung oder dieser “Versklavung des Geistes”?
„Zunächst einmal wird der Reichtum Afrikas nicht von Afrikanern verwaltet. Der größte Teil wird von westlichen Industrien und ausländischen Mächten verwaltet. Das System, das westliche System, ist immer noch da. Es beinhaltet die spirituelle Identität oder die spirituelle Lebensweise. Es beinhaltet unser Bildungssystem. Es beinhaltet unsere Finanzsysteme, Sozialsysteme und politischen Systeme. Bis jetzt sind die Industrien, die Politik und all diese Systeme immer noch da.“
Das wird auch deutlich, wenn wir uns zum Beispiel die Schokoladenindustrie ansehen. Nach Angaben der Fairtrade Foundation entfallen 60 Prozent der weltweiten Kakaoproduktion auf Ghana und die Elfenbeinküste. Doch die Bauern dort verdienen weniger als sechs Prozent des weltweiten Gesamteinkommens der Schokoladenindustrie. Die Produktion und die wertvollsten Teile der Wertschöpfungskette befinden sich außerhalb des Kontinents, was bedeutet, dass der größte Teil der Wertschöpfung und viele Ressourcen ins Ausland verlagert werden. Selbst wenn alle Ressourcen ursprünglich aus Ghana stammen, wird weniger als 1 Prozent der Schokolade dort hergestellt.
Dies ist ein Beispiel für eine Branche, in der noch immer ein großes Ungleichgewicht zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden besteht. Zwischen Ländern, die Ressourcen bereitstellen und nicht daran verdienen, und Ländern, die sich an ihrer Industrie bereichern. Man hat das Gefühl, dass alle Ressourcen nur abgebaut werden, um Geld zu verdienen, aber nichts von dem Geld oder gar den Arbeitsplätzen bleibt in dem Land…
Wie sähe die Politik heutzutage, ohne die Kolonisierung, aus?
„Aus der Geschichte weiß ich, dass es früher Dörfer gab, kleine Dörfer. Und jeder hatte seine eigene Art zu regieren. Jetzt gibt es also ein neues politisches System, das auf dem britischen Regierungsstil basiert. Das war früher nicht so. Ich glaube, das politische System wäre völlig anders gewesen, denn es basierte eher auf Königen wie Monarchen, die regierten, und es gab keinen Präsidenten.
Das derzeitige politische System Afrikas ist fremd. Und wenn sie ihr altes System hätten beibehalten können, wäre es nicht mehr so, wie es war. Vielleicht wäre es von den Königen zu einem ganz anderen afrikanischen Regierungsstil übergegangen? Aber das ist nicht passiert, weil sie eine ganz neue politische Art und Weise bekommen haben, ein Land zu regieren. Ich glaube, dass die politische Atmosphäre in Afrika viel besser gewesen wäre, wenn die Menschen sie in ihrem eigenen Stil, auf ihre eigene Weise und mit Blick auf ihre eigenen Probleme entwickelt hätten. Im Moment ist die politische Szene nicht in der Lage, die meisten der vorhandenen Probleme zu lösen.“
Bitte erzähl mir etwas über das alte System, über die traditionelle Lebensweise…
„Da ich im Dorf aufgewachsen bin, habe ich viel über unsere eigene Kultur gelernt. Denn in der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, gab es keinen großen Einfluss westlicher Bildung. Auf dem Dorf ist man im Vergleich zu den Städten nicht wirklich von der Verwestlichung beeinflusst worden. Ich habe also wirklich viel aus diesem Umfeld mitgenommen. Wenn man in einem typischen ghanaischen Dorf lebt, ist das Leben, das man dort kennenlernt, traditionell und sehr natürlich. Dadurch hat man immer dieses Gefühl von Identität. Man ist sich der Dinge und seiner selbst immer bewusst, aber wenn man in die Stadt kommt, ist das ein großer Unterschied.“
Ausgehend von dem, was ich bereits gelernt habe, kann ich mir in etwa vorstellen, wie das Leben und Aufwachsen im Dorf funktioniert. Aber was sind diese traditionellen Dinge genau? Was sind Beispiele?
„Zum Beispiel saß abends in jedem Haus eine ältere Person, etwa ein Großvater, mit den Kindern in einer Art Kreis. Und dann fängt er einfach an, über alles Mögliche zu reden. Es können Sprichwörter sein, es können Geschichten sein, es kann alles sein. Dann freuen wir uns einfach, von ihm zu hören. Allein das nächtliche Geschichtenerzählen schafft ein Gefühl der Verbundenheit zwischen dir und deiner Geschichte. Du lernst deine Geschichte durch deinen Großvater. Es sind nicht nur Geschichten, sie können einfach alles zur Sprache bringen. Es könnte so klingen: “Als wir Kinder waren, gingen wir auf den Bauernhof und dann sahen wir eine große Gestalt, die wie etwas in der Luft aussah” – sie versuchen nur, dir etwas zu erzählen, das vor langer Zeit, vielleicht in den 1920er Jahren, passiert ist. Das gibt dir Erinnerungen an deine Geschichte, deine Kultur und all das. Wenn man in die Städte kommt, ist dieses Gefühl nur noch selten da.“
Wie lange hast du im Dorf gelebt?
„Ich wurde im Jahr 2000 geboren. Als ich geboren wurde, wurde ich ins Dorf gebracht, weil meine Mutter in Accra lebte. Mein Dorf ist Kibi in der Eastern Region Ghanas, wo auch der Präsident herkommt. Meine Mutter wollte sich um mich kümmern können, also musste sie hier arbeiten und mich dann bei meinen Großeltern unterbringen. Ich habe eine lange Zeit dort verbracht. Ich kam nach Accra, als ich 12 Jahre alt war. Als ich nach Accra kam, wurde ich eingeschult. Mir wurde klar, wie groß die Veränderung hier war. Ich erinnere mich, dass ich am ersten Tag im Auto saß und mich fragte, warum es so viele Gebäude gibt. Das war das Erste, worauf ich wirklich geachtet habe. Denn zurück im Dorf gibt es viele Bäume, Hügel. Man kann das Grün sehen. Man kann das Grün fühlen. Dahinter kamen viele Autos, viele Häuser, viele Menschen. Mit der Zeit wurde mir klar, dass es das ist, was das Dorf zum Dorf macht, und das, was die Stadt zur Stadt macht. Durch die Geschichte haben wir erfahren, dass die Europäer um 1471 hierher kamen, die Portugiesen. Und dann begannen sie mit den Einheimischen zu handeln. Sie brachten Religion, Bildung und eine ganz neue Kultur für die Menschen mit, die ihre eigene Kultur hatten. Aber das Verrückte ist, dass die Menschen sie akzeptierten.“
Warum, glaubst du, haben einige Menschen die „neue“ Kultur akzeptiert?
„Okay, lass mich auf den Punkt kommen. Wenn man als Ausländer in eine neue Region kommt, muss man sehr herzlich sein, oder? Sie haben die Fremden wirklich willkommen geheißen. Das ist das Nette an uns Afrikanern*, wir sind sehr gastfreundlich. Sie haben sie also zuerst willkommen geheißen, ohne daran zu denken, dass sich ihre Kultur verändern würde oder so. Einfach mit einer netten Absicht. Dann änderte sich das, oder sagen wir, es entwickelte sich eine Art Geschäftsfreundschaft, zum Beispiel der Handel mit Mineralien und Gold.
Es ist also eine Art Freundschaft, aber sie hat sich verändert. Der eine fühlte sich mächtig über den anderen. Also musste der eine seine Macht für den anderen zurücknehmen. Ich glaube auch, dass in einigen Teilen Afrikas einige von ihnen sagten: Nein, das ist mächtig, das wollen wir nicht. Und dann mussten sie Gewalt anwenden, z. B. Zwang, und sie zwingen, die Kulturen zu übernehmen. Wenn ich Geschichte studiere, weiß ich, dass sie in einigen Teilen Afrikas viel Gewalt anwenden mussten, um das zu ändern. Es ist traurig, wenn man in der Geschichte davon erfährt. Man erkennt, dass es eine andere Art des Denkens gab, eine ganz andere Identität der Menschen. Deshalb habe ich gesagt, dass ich mich nicht einmal zu 100 % als Afrikaner* fühle. Ich weiß, dass es einige Dinge gibt, die ich nicht einmal ausdrücken kann. Ehrlich gesagt, kann ich sie nicht ausdrücken, weil vor allem meine Sprache, meine Art zu kommunizieren, mir nicht vertraut ist. Unsere Ausdrucksweise ist nicht einheimisch – das ist eine große Sache. Wenn man versucht, eine Idee auf Englisch auszudrücken, obwohl die Idee, die man hat, vielleicht wirklich aus der eigenen Heimat stammt und man sie in der eigenen Sprache ausdrücken möchte, muss man sie immer noch in den westlichen Kontext stellen.“
Englisch ist die offizielle Amtssprache in Ghana, jedoch von fast niemandem die Muttersprache. Im ganzen Land werden über 80 verschiedene lokale Sprachen und Dialekte gesprochen.
Welche Sprache ist denn deine Muttersprache?
„Twi, ein Akan-Dialekt. So haben wir früher gesprochen. Und mein Twi ist gestorben, seit ich nach Accra gekommen bin. Es ist eigentlich verrückt. Ich spreche immer noch Twi. Aber ich habe nicht das tiefe Verständnis, um mich wirklich auszudrücken. Das ist es, was dir wirklich angeboren ist. Daran hat sich dein Mund von Anfang an gewöhnt, richtig? Das ist also in jeder Situation die beste Art und Weise, wie du dich mit einer Idee ausdrücken kannst.
Viele Identitäten sind also nicht korrekt, weil sie sich zunächst einmal in einer fremden Sprache und in einem fremden Kontext ausdrücken. Ich habe das Gefühl, dass wir nicht wir selbst sind.“
Ist das der Grund, warum du sagst, dass es „authentischer“ ist, in einem Dorf zu leben?
„Ich war im Dezember letzten Jahres in meinem Dorf. Und ich sah, wie meine Cousins mit mir in Twi sprachen. Die Tiefe in den Kindern – ich war überwältigt. Sie benutzten einige Ausdrücke in Twi, von denen ich sagen würde, dass sie für Erwachsene sind. Wenn man sich mit Kindern hier in der Stadt, in Accra, unterhält, stelle ich fest, dass sie Twi sprechen und es immer mit einigen englischen Wörtern vermischen. Ich habe ihnen sogar gesagt: Ihr wisst gar nicht, wie gesegnet ihr seid!“
Was fühlst du, wenn du sie reden hörst?
„Was ich fühle? Oh, ich fühle mich glücklich. Ich denke, es kann gut sein, diese beiden Identitäten zu nehmen, die einheimische Identität und die fremde Identität, in die man definitiv hineinkommt. Beide Identitäten zu deinem eigenen Vorteil zu nutzen. Wenn jemand nur sprachlich und kulturell auf der einheimischen Seite sein will, ist das gut, oder? Aber die meisten Menschen haben den Bezug zu dieser Art zu leben verloren. Am besten ist es, diese beiden Identitäten zu haben und sich dann zu entscheiden, auf welcher Seite man die meiste Zeit verbringt. Aber ehrlich gesagt, ich wünschte, die Afrikaner* wären mehr auf der einheimischen Seite. Denn je mehr wir uns der fremden Seite zuwenden, desto mehr verlieren wir uns selbst.
Es fällt mir einfach schwer zu sehen, dass die meisten Menschen nicht so sind, wie sie wirklich sind. Ich weiß mit Sicherheit, dass die Afrikaner viel besser sind als das, was sie im Moment sind. Alle Afrikaner* haben mehr Potenzial. Aber zu sehen, wo wir jetzt sind, ist einfach nicht genug. Das liegt an den vielen Einflüssen. Ausländische Einflüsse sind gut, wenn sie unsere Kultur in Ihre Kultur einführen, nicht wahr?“
Du meinst einen Austausch auf Augenhöhe?
„Das wäre die beste Lösung für Afrikas Probleme gewesen. Aber das Narrativ war: Nehmt eure Spiritualität, nehmt eure Bildung, nehmt euer Familiensystem, nehmt alles weg.
Ihr müsst nicht zu eurem alten System zurückkehren. Es ist verrückt, wie selbstverständlich die Leute das nehmen, etwas, das unsere Vorfahren gelebt haben, und jetzt wird es weggewischt.
Was passiert, ist, dass die Menschen ihre Identität verlieren. Die afrikanische Kunst verliert ihre Qualität. Denn wenn man sich die alte Kunst Afrikas ansieht, ist sie so neu für einen. Sie stammte wirklich aus einer sehr tiefen und reichen Quelle. Das gibt es heute nicht mehr, diese tiefgründigen Kunstwerke mit diesem Ausdruck, dieser Ikonographie, die es früher in der afrikanischen Kunst gab. Wenn man sich die moderne Kunst ansieht, fällt einem das gar nicht auf. Man sieht einen Stuhl, auf dem man sitzt – jetzt ist es nur ein Stuhl, auf dem man sitzen kann, aber wenn man sich einen Stuhl aus dieser Zeit anschaut, sieht man einen Tierkopf, einen Krokodilskopf und vielleicht auf dieser Seite einen Eidechsenschwanz – sie werden einem sagen, dass dies aus einem Sprichwort stammt.
Ich möchte eine Art von Kunst machen, die dich umhaut. Aber ich kann es nicht tun, weil ich von etwas beeinflusst wurde. Ich muss mich immer von der Kunst der Vergangenheit, von Gedanken und Sprichwörtern inspirieren lassen. Jetzt ist dieses Konzept verschwunden. Es gibt eine ganz neue Art, die Welt zu sehen. Die fremden Einflüsse haben uns nicht nur die Identitäten genommen, sondern zum Beispiel auch unsere Kunst oder unseren Geist. Manchmal werde ich zu leidenschaftlich, wenn ich über diese Dinge nachdenke und rede. Wenn ich mit meinen Freunden darüber spreche, sagen sie: „Du bist immer mit diesem historischen Denken und diesem modernen Zeug beschäftigt, das ist das neue System, siehst du nicht, dass es funktioniert?” Aber es gibt so viele Dinge, die wegen dieser ganzen “Fremdenfreundschaft” wirklich verkorkst sind. Wenn wir alle unsere Kulturen behalten und daran arbeiten würden, wäre es so schön gewesen. Ich möchte mir nur vorstellen, wie es in Afrika gewesen wäre, wenn wir nur an uns selbst gearbeitet hätten.“
Was sind also Beispiele? Wie sah die Religion aus, bevor die Missionare das Christentum brachten?
„In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es eine Art Ahnenkult. Vor den Europäern haben sie nicht an Jesus geglaubt. Sie kannten einen „Meister“. Alles, was sie wussten, war, dass es definitiv jemanden geben muss, der alles kontrolliert. Sie glaubten auch, dass es eine Figur gibt, die über ihnen steht. Aber die Art und Weise, wie sie sich mit diesem Meister verbanden, war der Unterschied. In der traditionellen afrikanischen Religion nutzten sie die Ahnen, um sich mit dem Meister zu verbinden. Oder sie benutzten natürliche Elemente, um sich mit dem Meister zu verbinden, weil sie glaubten, dass all diese natürlichen Dinge irgendwie miteinander verbunden waren. Deshalb benutzten sie ihre Vorfahren, die auch Teil der natürlichen Elemente sind. Das war es, was es gab, bis das Christentum kam.“
Gibt es noch Menschen, die diese Naturreligionen praktizieren?
„Nur ein paar von ihnen. Es ist nicht mehr so, wie es früher war. Ich zum Beispiel praktiziere nicht die traditionelle afrikanische Religion, ich praktiziere nicht die moderne ausländische Religion, das ist wirklich traurig. Es gibt auch alte, alte Traditionen, die seit langem praktiziert werden, wie Krönungen. Einige der Traditionen wurden beibehalten, aber die meisten sind in Vergessenheit geraten. Es ist wie ein kleines Stück, das übrig geblieben ist. Und es ist schwer, denn man kann nicht wirklich wissen, wie die traditionelle afrikanische Religion aussah. Was sie früher wirklich taten.
Wenn ich jetzt in die Dörfer gehe, ist jeder ein Christ. Alle sind Christen, und das Komische ist, dass ich als Kind immer gemerkt habe, dass meine Großväter und Großeltern die traditionellen Bräuche pflegten. Sie schenkten das Bier ein und verbeugten sich, aber gleichzeitig gingen sie sonntags in die Kirche. Ich habe mich gefragt: Was ist hier los? Warum machen sie beides? Der ausländische Einfluss – das ist der Punkt. Denn sie sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem sie die alten Dinge beibehalten wollen, aber sie passen sich trotzdem an. Aber vor allem das christliche Denken mag die afrikanische Art der Spiritualität nicht. Das meiste davon haben die Christen verteufelt. Sie mussten sie verteufeln, damit sie sie aufhören ließen. Aber wie kannst du mir sagen, dass du ein Christ bist und gleichzeitig an das hier glaubst? Verquere Identitäten. Ich würde mir wünschen, dass die Afrikaner* ihre eigene Methode anwenden, um sich mit wem auch immer hier zu verbinden. Anstatt sich zu vermischen oder eine ganz neue, fremde Methode zu verwenden, um sich mit einem Meister zu verbinden. Wenn ich darüber nachdenke, ist das wirklich schmerzhaft.“
Wo hast du das alles gelernt? Du hast in deiner Kindheit im Dorf viel gelernt, oder? Habt ihr auch in der Schule etwas darüber gelernt?
„Einiges davon haben wir in der Schule gelernt. Mir wurde klar, dass das Bildungssystem eher westlich geprägt war und sich nur teilweise oder gar nicht mit dem afrikanischen Erbe und Hintergrund befasste. In der Schule lernt man nur ein bisschen. Und selbst das, was man lernt, ist nicht so sehr auf die eigene Herkunft bezogen. In der Schule lernt man einen allgemeinen Überblick über die afrikanische Kultur oder die ghanaische Kultur. Ich bin ein Akan. Die Akan-Kultur zum Beispiel wird einem nicht näher gebracht. Selbst der Lehrer weiß nicht viel, weil er nicht dafür ausgebildet ist, die einheimischen Kulturen in der Tiefe zu lehren. Sie lehren dich die allgemeine Perspektive. Um wirklich in die Tiefe zu gehen, muss man also persönlich aktiv werden. Das meiste, was ich gelernt habe, habe ich durch meine eigenen Nachforschungen erfahren. Wenn ich in ein Dorf gehe, spreche ich mit einer älteren Person. Ich frage sie nach ihren Ansichten von damals. Und sie fangen an zu erzählen. Manchmal gehe ich auch einfach ins Internet und studiere. Das mache ich sehr oft. Geschichte durch Forschung hilft mir wirklich dabei.
Die meisten Menschen sind nicht daran interessiert, mehr über das traditionelle Leben zu erfahren. Wegen der neuen Perspektive, dem neuen System. Sie wollen nicht einmal etwas über die alten Systeme des afrikanischen Lebens lernen. Es braucht Menschen, die wirklich daran interessiert sind, etwas darüber zu lernen. Zuallererst braucht es also Interesse. Und man muss andere Mittel einsetzen, um die Menschen aufzuklären. Zum Beispiel meine Marke Colony of Congo. Das Ziel ist es, die Afrikaner* aufzuwecken. Ich habe Colony of Congo gegründet, um sicherzustellen, dass wir Wege finden, die vergessene afrikanische Geschichte zu vermitteln.
Wie kann ich die Menschen über Dinge aufklären, die heute nicht mehr so wichtig sind, aber früher wichtig waren. Wie bringe ich diese Dinge zurück? Wie erzähle ich es den Menschen auf moderne Art und Weise? Wie kann ich alte Geschichte in der modernen Welt vermitteln, in der alles neu ist? Man kann Design verwenden, das eine moderne Art ist, Ideen zu vermitteln, richtig? Und auch Kunst. Dann habe ich gesagt, dass ich es ernst nehmen werde. Ich werde aufpassen, ich werde mich über die Geschichte und die Dinge, die ich wirklich vermitteln will, informieren und dann moderne Mittel einsetzen. Wenn jemand diese Kolonie im Kongo sieht, weiß ich genau, dass sie ihn auf andere Gedanken bringen wird.“
Du hast gesagt, dass es viel mit Identität zu tun hat. Welche Möglichkeiten gibt es, um zu dieser Identität zurückzukehren? Oder ist es überhaupt wichtig, dass die Menschen versuchen, zu ihr zurückzufinden?
„Ich persönlich glaube, dass es sehr wichtig ist, sich zu bilden und etwas über diese Dinge zu lernen. Der Ort, an dem man geboren wird, hat seine eigene Lebensweise. Wenn man mit der Lebensweise seines Geburtsortes verbunden ist und immer noch mit dieser Kultur in Einklang steht und diese Identität hat, wird man viel, viel besser sein als jemand, der an seinem Geburtsort geboren wurde und nicht mit den Lebensweisen und Lebensmustern dieses Ortes verbunden ist.
Und wir müssen aufhören, nur über die Probleme zu reden, sondern über Lösungen. Das ist es, woran ich gerade arbeite. Was würde uns helfen, uns von all diesen kolonialen Einflüssen und all dem zu befreien – das ist im Moment die Frage. Bewusstseinsbildung ist im Moment das Wichtigste. Die Menschen zu bilden. Man muss sich mit unserem alten System auseinandersetzen, man muss verstehen, warum es benutzt wurde. Ich meine, warum hat man dieses System überhaupt erst geschaffen? Warum haben sie damit gearbeitet? Warum haben sie sich durch ihre Vorfahren mit Gott verbunden? Warum haben sie natürliche Elemente verwendet? Dadurch können wir die Dinge vielleicht besser verstehen und Lösungen für sie finden.“
Hast du etwas, von dem du glaubst, dass es für die Leser wichtig zu wissen ist?
„Zunächst einmal, bei allem… Wir sind doch alle Menschen, oder? Unabhängig davon, woher du kommst, wie gebildet du bist, wie aufgeklärt du bist. Wir sind alle Menschen. Und ich glaube fest daran, dass wir alle von einem Ort ausgehen. Wenn das also der Gedanke ist, und wenn jemand daran glaubt und akzeptiert, dass wir alle Menschen sind, dass wir nicht aus verschiedenen Teilen der Schöpfung stammen, sondern dass wir alle aus einer Schöpfung stammen, dann ist es doch richtig, dass wir alle Menschen sind, oder? Dann ist es richtig, dass wir alle an die wahren Freiheiten der Menschen glauben. Wenn jemand eine bestimmte Lebensweise haben möchte, sollten wir sie ihm zugestehen. Wenn eine Gruppe von Menschen der Meinung ist, dass dieses System für uns funktioniert, dass es das ist, womit wir arbeiten wollen, dann sollten sie es haben, sie sollten es nutzen können. Und wenn es für sie nicht funktioniert, sollten sie in der Lage sein, Lösungen zu finden, damit es richtig funktioniert. Aber in einem Zustand zu sein, in dem einem das System jeden Tag aufgezwungen wird oder aufgezwungen wurde und man trotzdem weitermacht – das ist schmerzhaft. Jeder sollte daran glauben, dass die Menschen selbst entscheiden können, was für sie wirklich gut ist. Und meistens ist das, was für die Menschen wirklich gut ist, ihre Natur.
Und wenn ein Mensch die Freiheit hat zu wählen, dann sollte jeder die Freiheit haben, zu wählen, wie er sein Leben leben will.
Der Ort, an dem ihr geboren seid, hat seine eigenen Wege und Lebensmuster. Ihr würdet keine Lebensweise wählen wollen, die nicht von eurem Geburtsort stammt oder die eurem Geburtsort fremd ist, denn dort, wo ihr geboren seid, gibt es fast alle Antworten und alle Dinge, die ihr braucht, um euch zu entwickeln. Aber wenn man dort, wo man geboren ist, ein anderes Muster einführt oder bekommt, kann man sich nicht weiterentwickeln. Meiner Meinung nach kann man sich nur entwickeln, wenn man mit seiner Quelle verbunden ist, wo man ist, und wenn man weiß, wo man wirklich ist. Die Menschen haben die Freiheit zu wählen, aber es ist besser, von der Quelle aus zu wählen. Was wäre, wenn du dich dafür entscheidest, genau zu repräsentieren, wer du bist, indem du weißt, woher deine Vorfahren kamen?“

Szene eines traditionellen Festes in einem Dorf — gesehen in der Gallery 1957, Accra, Ghana — Rita Mawuena Benissan