
die freiheit, zu entscheiden
Eine Realisation, die ein Internationales Jahr mit sich bringt, ist zu verstehen, woher man selbst kommt. Mit welchen Vorstellungen und Privilegien man aufgewachsen ist und welche Dinge man für selbstverständlich nimmt.
Natürlich lässt sich das in diesem speziellen Fall auch auf das Verhältnis Aufwachsen in Deutschland versus Ghana beziehen. Es ist offensichtlich, welch unterschiedliche Vorstellungen man mit sich nach Ghana bringt und welche Privilegien man hier für sich selbst aufdeckt. Mir geht es aber noch um einen weiteren Vergleich, unabhängig von Einsatzland und neuer Kultur. Nämlich zu sehen, aus was für unterschiedlichen Teilen Deutschlands und somit unterschiedlichen Milieus wir Freiwillige alle kommen, die sich nun hier in Ghana treffen.
Man muss offensichtlich nicht ganz nach Ghana gehen, um seine persönliche Nachbarschafts-Bubble klar sehen zu können, aber das WG-Leben, zu viert bunt zusammengewürfelt, erleichtert einem die Reflexion darüber und Erkenntnisse dessen schonmal enorm. Es ist unglaublich, wie sehr man in seiner eigenen Bubble manchmal vergessen kann, wie vielfältig die Menschen und Familien oder Ansichten und Anschauungen sein können, mit was für einer unterschiedlichen Prägung man durchs Leben läuft.
In Deutschland halten wir uns alle in eigenen und verschiedenen Gruppen auf. Wenn man zurückkehrt, wird man bestimmt auch zu einem gewissen Maß wieder in diese Gruppen eintauchen und sein Leben dort weiter leben. Zu einem gewissen Maß heißt, dass man durch das FIJ Erfahrungen sammelt und seine Perspektive ändert und somit nicht mehr so konform mit einigen Dingen ist, die man vorher noch als normal betrachtet oder genossen hat. Ich hoffe natürlich und ich bin mir sicher, dass ich auch in Deutschland mit anderen Augen durch meinen Alltag laufen werde und es mir in meinem gewohnten Umfeld nicht zu gemütlich mache. Aber bis zu einem gewissen Grad wird man natürlich auf das bereits gestrickte Netz und viele lieb gewonnene Gewohnheiten zurückgreifen.
Die Realisation, dass wir in Deutschland alle aus bestimmten gesellschaftlichen Kreisen kommen, spielt noch eine andere Rolle, wenn ich betrachte, in welchen Kreisen ich mich hier in Ghana aufhalte. Und zwar gilt da eines: Während ich in Deutschland meist nur in einer Gruppe oder einem Milieu unterwegs war, bin ich hier in Ghana plötzlich in allen gleichzeitig. Weil wir als Freiwillige ohnehin eine spezielle Kategorie sind, scheint es als ob wir hier in alle Kategorien der Gesellschaft reinpassen könnten — eben weil wir keiner einzelnen bestehenden Kategorie so richtig angehören. In einer einfachen Straßenbude mitten im ländlichen Ghana sind wir genau so willkommen wie bei einem exklusiven Event der reichen Oberschicht Accras. Das ist, entstehend aus einer liebevollen Gastfreundschaft und neugierigem Interesse an ausländischen Personen, gleichzeitig eine enorme Chance, wie auch eine kleine Absurdität. Eine Chance ist es vor allem, weil es den meisten Locals offensichtlich nicht so geht; es ist ein Privileg, von allen Gruppen akzeptiert zu werden. Eine Absurdität wird es, wenn einem auffällt, in welch enorm gegensätzlichen Lebensrealitäten sich die verschiedenen Personen befinden, mit denen man Zeit verbringt.
Mir ist schon früher aufgefallen, dass wir überall hingehen können, wo wir wollen. Aber wir können auch sein, wer wir wollen. Wir können uns unsere Gruppe aktiv suchen und Zeit verbringen, mit wem wir wollen: Mit unseren Essensverkäuferinnen scherzen. Mit den Schulkindern von Arise spielen. Mit Mitarbeitenden Networking in Accra betreiben. Mit Kokrobite-Locals bei der Reggae Night tanzen. Mit persönlichen Moto-Fahrern quatschen. Am French Club eines Freundes am Strand ein bisschen Sprachen lernen. Mit anderen deutschen Freiwilligen quer durch das Land reisen. Mit ghanaischen Freunden Billard spielen. Kunstgalerien im exklusiven Kempinski Hotel besuchen…






Von hier nach da. Mit dir oder mit denen. Machen und lassen, was man will. Träumen, wovon man will. Es gibt wenige Grenzen, die uns hier davon abhalten, gewisse Räume zu betreten. Was ich in meiner Ghana-Erfahrung haben möchte, bekomme ich höchstwahrscheinlich auch. Wenn ich auf bestimmte Dinge keine Lust habe, kann ich sie sehr komfortabel umgehen.
Typische und nervige „Will you marry me“-Unterhaltungen mit Taxifahrern auf der 5 Cedi teuren Shared-Taxi-Strecke führen, stattessen lieber privat einen Uber bestellen (wesentlich teurer), oder vielleicht eher Leute treffen, die dich mit einem dicken SUV und privatem Fahrer abholen?
Es ausnutzen, im schönen und vielfältigen Ghana zu sein und in andere Teile des Landes zu reisen? Klingt gut, natürlich möchte ich auch andere Orte sehen, wenn ich schonmal in einem anderen Land bin. Aber was entgegne ich, zurück in Kokrobite, den Lehrer:innen, die, wie es hier typisch ist, nie verreisen und all die schönen Orte ihres eigenen Landes, die ich in einem Jahr entdecke, in ihrem Leben noch nicht gesehen haben?
Heute verbringe ich Zeit in der Arise-Schule mit den Kindern, von denen ich weiß, dass die meisten von ihnen noch nicht einmal Elektrizität zuhause haben. Morgen bin ich vielleicht auf einem AC-gekühlten Event in Accra, auf dem ich für eine Kleinigkeit zu Essen oder ein Getränk einen Preis zahle, den eine Mutter unserer Schüler:innen vielleicht in einem Monat verdient.




An der Universität von Ghana einem spannenden intellektuellen und inspirierenden Vortrag über einen ghanaischen Philosophie-Professor lauschen oder zuhören und versuchen zu verstehen, wie es jemandem geht, der mit 8 Jahren die Schule abbrechen musste, um seiner Mutter beim Fisch-Verkaufen zu helfen?
Einen ganzen Tag lang kann ich recherchieren und darüber nachdenken, für welchen der vielen Studiengänge ich mich denn nun entscheiden soll, die mir alle liegen und sehr zukunftsorientiert sind, während die Entscheidung an sich zur Uni zu gehen eine Selbstverständlichkeit für mich ist. Danach führe ich dann ein intensives Gespräch mit einem Ghanaer darüber, wie sehr ihn die Perspektivlosigkeit bedrückt, die das Land für die meisten Jugendlichen bereit hält, die es sich nicht leisten können, studieren zu gehen. Denn es gibt einfach keine Perspektive, wenn es so viele Jugendliche in einem Land gibt, das kaum Berufsmöglichkeiten oder Förderungen, für die, die weniger haben, bereithält.
Entweder kann ich mich anpassen und Dinge so handhaben, wie es die meisten ghanaischen Menschen machen würden. Wenn ich aber einen anderen „Standard“ in Anspruch nehmen will, kostet das meistens Geld. Und während die Inflation in Ghana steigt und der Cedi immer schwächer wird, kann ich mir hier sogar immer mehr leisten. Ich kann für Dinge verhältnismäßig viel Geld ausgeben, wie ich es mir in Deutschland wahrscheinlich nicht leisten könnte. Es ist auch ein Witz, mich zu beschweren, wenn der Taxifahrer 6 statt den gewohnten 5 Cedi verlangt, nachdem ich vielleicht mit einem teuren 100-Cedi-Uber aus Accra gekommen bin.
Oder dass ich mich ärgere, dass Fried-Rice jetzt 20 statt 15 Cedi kostet, wenn ich am Wochenende in der Lage bin, für 200 Cedi Sushi essen zu gehen oder bereit bin, für eine gute italienische Pizza 140 Cedi auszugeben — verglichen mit den Preisen zuhause ist das nämlich noch völlig im Rahmen.
Man erkennt, welche Entscheidungsfreiheit uns allein aufgrund unserer Herkunft gegeben ist. Denn Herkunft ist in diesem Sinne gleich Geld, wenn wir in einem Land, in dem die Inflation zurzeit bei ungefähr 25% liegt, Euros zur Verfügung haben. 16 Cedi entsprechen derzeit einem Euro.
Dadurch verspüren wir wesentlich weniger Druck, wenn es um generelle Kosten und Preiserhöhungen geht. Wenn wir in unserer Cedi-Bubble bleiben, staunen wir manchmal über verteuerte Preise. Gucke ich mir aber an, wieviel mehr Geld mir nun umgerechnet zur Verfügung steht, ist dieser Preisunterschied für mich persönlich total irrelevant.
Das Ganze kann einen verzweifeln lassen. Ja, es ist ein Privileg, so viele Möglichkeiten in einem Land zu haben. Und in den meisten Fällen ist es die finanzielle Freiheit, die mir meine Entscheidungen hier ermöglicht.
Und trotzdem ist es, wie ich finde, gut, all diese Möglichkeiten zu nutzen. Zu versuchen, in alle noch so verschiedenen Gesellschaftsschichten einzutauchen. Dadurch wird mein Freiwilliges Internationales Jahr unglaublich vielschichtig und lehrreich, auf gar keinen Fall einseitig. Und ich werde mich höchstwahrscheinlich nicht so schnell wieder in der Position befinden, die Wahl zu haben, in welche gesellschaftliche Kategorie ich mich selbst stecken möchte. Es ist vielleicht der einzige Zeitpunkt, zu dem ich wirklich selbst beeinflussen kann, zu welchem Milieu ich gehören möchte. Hier ist die finanzielle Barriere niedriger und zudem ist es in Deutschland durch die Erziehung und die Umstände ja nur bedingt beeinflussbar.
Die einzige Kategorie, die hier von außen auf mich übertragen wird, ist erst einmal weiß und weiblich. Und in den letzten Monaten habe ich schon gelernt, zu akzeptieren, dass gewisse Erwartungen an mich gerichtet werden aufgrund dieser zwei Merkmale. Vor allem die Rolle der Frau wird hier in vielen Teilen für mich zu traditionell und zu wenig emanzipiert aufgefasst, das ist ein ganz eigenes wichtiges Thema. Doch sobald ich akzeptieren kann, dass ich in die Schublade „weiß“ und „Frau“ gesteckt werde, kann ich erkennen, dass ich (auch aufgrund der Kategorie „weiß“) nicht so einfach in weitere Schubladen gesteckt werde, sondern eine enorme Entscheidungsfreiheit habe, was ich in Ghana aus mir mache — vor allem aufgrund der nötigen finanziellen Mittel.



